Von der Vision zum Projekt
Schanfigger Momentaufnahmen». Heute im Porträt: Carla Gabrí
Man fragt sich gelegentlich, wie viele Stunden der Tag von Carla Gabrí hat – blickt man auf das Pensum, das sie leistet. Bei alledem wirkt sie im Gespräch entspannt und immer weiter sprühend vor Ideen. Und es bleibt nicht bei den Ideen – man spürt, dass sie auch gern organisiert und das, was sie sich ausgedacht hat, umsetzt. Wird das eine Projekt gerade realisiert, steckt sie gleichzeitig schon mitten in den Vorbereitungen zum nächsten.
Das zeigt sich auch in diesen Tagen: Am Samstag, 22. Juni, wird das von ihr zusammen mit Andri Probst und Marie-Claire Niquille initiierte Grossprojekt zur klingenden Kulturgeschichte im Schanfigg eröffnet, da erzählt sie schon von dem nächsten Vorhaben: einem Viadukt-Museum, das zum 111-Jahr-Jubiläum des Langwieser Viadukts realisiert werden soll. Blättert man die Infobroschüre durch, in der sie ihre Vision vorstellt, kommt man auf ein weiteres Moment, das typisch für sie ist. Natürlich denkt Carla Gabrí nicht eine Sekunde lang an ein staubtrockenes Museum, in dem in einem mehr oder weniger attraktiven Raum alte Dokumente und Fotos ausgestellt werden. Nein, sie will das ganze Umfeld des Viadukts einbinden, die einzelnen Stationen wie mit einem roten Faden verbinden. Ein modulares Museum, nennt sie es. Doch darüber zu einem späteren Zeitpunkt mehr...
Carla Gabrí ist in Chur geboren und in Zizers aufgewachsen, dies in einer sehr sportlichen Familie. Mit Kultur und Kunst, denen sie sich mittlerweile ganz verschrieben hat, habe sie in ihrer Kindheit und Jugend wenig Berührung gehabt. «Meine ganze Prägung ist vom Sport gekommen.» Als Jugendliche machte sie selbst Leistungssport, war als Siebenkämpferin polysportiv unterwegs. «Das ist eine gute Lebensschule gewesen, aus der ich bis heute schöpfen kann. Ich bin es gewohnt, sehr viel zu arbeiten, um Erfolg zu haben.»
Schon als Kind habe sie immer gern und viel gelesen. Mit der Zeit kam das Schreiben dazu, und so auch immer mehr die Nähe zu kulturellen Themen. Das zeigte sich dann spätestens, als sie sich dazu entschied, an der Universität Zürich Germanistik, Anglistik und Filmwissenschaft zu studieren. Sind die beiden ersten Fächer noch weit verbreitet, lässt der dritte Studiengang aufhorchen. Warum Filmwissenschaften? «Ich habe gemerkt, dass ich eine ausgeprägte visuelle Auffassungsgabe habe und sehr fest in Bildern denke.» Das Studium habe ihr einen sehr guten Einblick in das Kunstschaffen gegeben und ein Gefühl für die historische Entwicklung dieses Genres. Zwar habe sie immer einen Bezug zum «Machen und Schaffen» gehabt, sei es beim Schreiben oder dann beim Selber-Filmemachen, «aber mir hat diese fundierte theoretische Ausbildung sehr gutgetan». Und so hat sie ihre wissenschaftliche Ausbildung von Anfang an komplementiert mit der Praxis und eigene Projekte realisiert. So widmete sie sich von 2017 bis 2020 malerischen Studien zum Thema der Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) und seit 2018 arbeitet sie vermehrt mit fast schon historischen Aufnahmegeräten und dem händischen Entwickeln von analogem Bildmaterial. 2019 setzte sie sich künstlerisch über mehrere Monate hinweg mit dem Bergdorf Trun auseinander und im Jahr 2020 startete sie das Langzeitprojekt ONO, das sich mit dem Prozess der Weinherstellung und der Frage nach tradiertem Wissen auseinandersetzt. Dabei entstehen künstlerische Arbeiten in Form analoger Fotografien und Filmaufnahmen, die unter anderem durch die Beigabe von Rotwein entwickelt werden. Die Theorie aus dem Studium und die eigene Erfahrung in der Praxis hätten sich dabei gegenseitig befruchtet.
Zum Abschluss ihres Bachelorstudiums wechselte sie von Zürich für einen Ersamus-Aufenthalt nach Berlin. Aus dem ursprünglich geplanten Jahr wurden zweieinhalb Jahre, und wie schon in Zürich beliess es Carla Gabrí auch in der deutschen Hauptstadt nicht bei der Theorie, sondern arbeitete bei verschiedenen Filmproduktionen mit. «Hier konnte ich am Filmset von den Besten der Branche lernen, wie man Filme macht und Geschichten erzählt, sie bildlich einfängt.» Eine sehr aufregende und intensive Zeit sei das gewesen, erinnert sich Carla Gabrí zurück.
Auf Dauer war es gleichwohl nicht das, was sie wollte, ein Rädchen in einem ganz grossen System zu sein. «Das hat wenig mit künstlerischer Freiheit zu sein. Ich wollte selbst Filme machen und Projekte realisieren.» Nun sei jedoch die Frage gewesen, wie der Transfer gelingen könnte – von dem vielen Wissen und dem Erlernten hin zum Erschaffen von etwas Eigenem. Dazu brauche es Mut und Ausdauer, womit wir fast schon wieder beim Sport als gute Grundlage angekommen sind.
Nach dem Abschluss ihres Studiums stellte sich für Carla Gabrí die Frage, ob sie im akademischen Bereich bleiben und wissenschaftlich arbeiten sollte, oder es noch einen anderen Weg geben könnte. Bei einem Aufenthalt im elsässischen Strassburg dachte sie über verschiedene Möglichkeiten nach, als sie ganz spät, um halb zwölf in der Nacht, das Stellenangebot der Kulturfachstelle im Schanfigg sah. Zurück nach Graubünden, «wie lustig wäre das denn», habe sie gedacht, und dann gesehen, dass die Bewerbungsfrist in einer halben Stunde ablief. «Dann habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um noch rechtzeitig die Bewerbung abschicken zu können.»
Ein weiteres Moment kam hinzu, als sie erfuhr, dass die Stelle ursprünglich von Georg Jäger angestossen worden war, dem langjährigen Leiter des Instituts für Kulturforschung Graubünden, den sie seit ihrer Jugendzeit kannte, war sie doch mit dessen Kindern befreundet. «Er ist Mentor von so vielen Kulturschaffenden, die er geprägt hat», erzählt sie. Für sie persönlich sei Georg Jäger einer der Ersten gewesen, der ihr gezeigt habe, dass Kulturschaffen durchaus auch ein Lebensentwurf sein könnte. «Mit ihm zu sprechen, ist etwas vom Fruchtbarsten, was ich je erlebt habe. Und ich glaube, es gibt niemanden, der junge Menschen so motivieren kann wie er. Ich denke gern an diese Zeit zurück.» Durch die Kulturfachstelle in Langwies hat sie nun immer wieder einmal mit Georg Jäger zu tun, «und das ist sehr schön, wie sich der Kreis dadurch schliesst».
Gleich nach dem Abschluss ihres Studiums mit der Promotion im Mai 2022 hat Carla Gabrí ihre Arbeit aufgenommen, als Leiterin der Kulturfachstelle und des Kulturhuus Schanfigg in Langwies. Das ist mittlerweile über zwei Jahre her, «und damit schon länger als bei meinen beiden Vorgängerinnen Sonja Rüegg und Erika Holenweger», lacht sie. Denn bis zuletzt habe sie sich überlegt, ob sie die Stelle wirklich antreten sollte.
Doch nach einem Gespräch mit Angela Buxhofer und Roland Schuler «ist nach zwei Minuten klar gewesen, dass ich das unbedingt möchte». Ihr sei in dem Gespräch bewusst geworden, wie vielversprechend die Konstellation der neuen Stelle ist, zumal zu Kulturfachstelle und Kulturhuus noch die Projektleitung für die Talschaft Schanfigg bei Arosa Tourismus dazu gekommen ist, wobei der letztere Teil ihrer Stelle noch etwas geschärft worden ist. Man habe gemerkt, dass es jetzt darum geht, Projekte zu initiieren und umzusetzen, eben weil man sehe, «dass das Potenzial da ist, und auch die Bereitschaft, dabei mitzumachen». Daher liegt der Fokus ihrer Stelle mittlerweile auf der Entwicklung kulturtouristischer Formate für Arosa Tourismus und Arosa Kultur. Kulturtourismus ist ihrer Meinung nach nicht nur nachhaltig, sondern auch identitätsstiftend für die Menschen vor Ort, zumal er auch das alltägliche Leben in den Dörfern bereichert. Gleichzeitig gebe es seitens vieler Gäste ein grosses Interesse an kulturtouristischer Vermittlung. Durch die gute Zusammenarbeit zwischen Arosa Tourismus, Gemeinde Arosa und Arosa Kultur könne man dieses Potenzial optimal ausschöpfen.
Entgegen kam Carla Gabrí, dass das Thema «Peripherie» sie auch in der Forschung stets begleitet hat. Es ist ihr dabei schon immer wichtig gewesen, das «Dezentrale» eben nicht als Makel anzusehen oder als Abstellgleis, sondern den Fokus auf das Potenzial zu legen, das es dort gibt. Dazu brauche es Feinfühligkeit und ein «genuines Interesse» an dem, «was dort geschieht», ohne von aussen etwas aufpfropfen zu wollen.
Projekte müssten daraus entstehen, «was es vor Ort schon gibt». Durch ihre beiden Vorgängerinnen sei hier bereits eine Basis gelegt worden, auf die sie nun weiter aufbauen könne. Zwar ist sie überzeugt, dass man an allen Orten spannende Sachen findet und Kultur schaffen kann, «aber die optimale Ausgangslage im Schanfigg ist schon ganz speziell. So viele Menschen haben so lange bereits dafür gearbeitet».
Ein Beispiel dafür ist auch das Projekt der klingenden Kulturgeschichte, das in gut einer Woche eröffnet wird. Zusammen mit Nina Homberger wanderte Carla Gabrí auf dem Dörferweg Schanfigg. Ein wunderschöner Weg, der sich bei vielen Gästen steigender Beliebtheit erfreut – «aber wir haben uns die Frage gestellt, was man eigentlich in den Dörfern machen kann». Und so überlegten sie, ob es ein Projekt gibt, das den Dörferweg stärken könnte. Etwa indem man in den Dörfern selbst etwas über deren Kulturgeschichte in Erfahrung bringen kann. Wobei bei Carla Gabrí von vornherein klar ist, dass sie dabei nicht an einfache Infotafeln denkt. Warum nicht mit Klängen und Musik schaffen, damit die Vermittlung auch eine sinnliche Qualität hat? Natürlich sollte das ganze Tal darin einbezogen werden, und es würde sich um ein ambitioniertes Projekt handeln. Mit Andri Probst und Marie-Claire Niquille habe sie dafür zwei starke Kooperationspartner gefunden.
An jeder Stelle wird nun sehr feinfühlig gefragt, was für das jeweilige Dorf spezifisch ist, was hat es geprägt, was ist in dem Dorf drinnen, aber nicht mehr sichtbar. «Das wollen wir mit den Klängen wieder sinnlich erlebbar machen.» Um passende Installationen zu finden, bedurfte es zahlreicher und intensiver Gespräche mit Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern. «Denn sie kennen die spannenden Geschichten. Da ist es unheimlich wichtig, einfach einmal zuzuhören.» Und dabei gehe es nicht nur um die grossen Themen, sondern um die subtilen Geschichten, die man sich erzählt und von denen man selbst vielleicht denkt, sie seien gar nicht wichtig für das Weltgeschehen. «Diesen Geschichten wollen wir Raum geben». Die Installationen, die jetzt aufgebaut sind, können nach der Eröffnung bis zum 7. November besucht werden, zudem werden sie auch 2025 und 2026 im Sommerhalbjahr noch einmal aufgebaut. Parallel dazu gibt es eine ergänzende Ausstellung zur klingenden Kulturgeschichte im Kulturhuus Schanfigg in Langwies mit Quellenmaterial zu den einzelnen Themen, wie als eine Art Dokumentationszentrum. Dazu wird es ein Begleitprogramm mit Vorträgen und geführten Wanderungen zu den Installationen geben. Abschliessend ist ein Kulturführer geplant, in dem die Themen auch noch wissenschaftlich aufgearbeitet werden.
* Weitere Informationen zur klingenden Kulturgeschichte im Schanfigg gibt es auf der Webseite «www.arosa.swiss/klingend». Dort gibt es auch detaillierte Informationen zum Programm der Eröffnung sowie zu allen Klanginstallationen.